Erinnern, um das Bewusstsein zu stärken

Bei der Identitätsbildung in der heutigen westlichen Kultur spielt die Aufarbeitung der Vergangenheit eine wichtige Rolle. Insbesondere die deutsche Gesellschaft setzt sich mit diesem Thema besonders aufrichtig und meiner Meinung nach sehr tugendhaft auseinander. Schuldanerkennung, Vergangenheitsbewältigung und Versöhnung sind dabei die wichtigsten Stichworte. Ein richtiger Umgang mit der Vergangenheit könnte das jetzige Verhalten der Gesellschaft positiv beeinflussen.

Der konstruktive Umgang mit der Vergangenheit kann – in Computersprache ausgedruckt – eine Firewall im kollektiven Bewusstsein kreieren. Eine Firewall ist nach dem Duden ein „Sicherungssystem, das ein Netzwerk oder einen einzelnen Computer vor unerwünschtem Zugriff über Datenleitungen von aussen, besonders über das Internet, schützt“. Die Firewall schützt also die innere Sicherheit. Bei der Firewall im kollektiven Bewusstsein geht es um etwas Ähnliches. Sie schützt davor, dass die dunklen Seiten der Geschichte sich wiederholen.

Das Vergessenwerden als Grundrecht ist kein neues Phänomen. Denn das moderne Rechtssystem kannte schon vor dem Internetzeitalter ähnliche Konzepte. Zum Beispiel mussen nach einer bestimmten Zeit die Eintrage im Beitreibungs- bzw. Strafregister gelöscht werden. Ausserdem kennt sowohl das Privat- als auch das Strafrecht die Verjährungsfrist. Wer sein Recht innerhalb einer bestimmen Frist nicht durchsetzt, verliert seinen Anspruch und es wird sozusagen vergessen.

Das Vergessenwerden dient der Resozialisierung und Rehabilitierung der Menschen, die ihre Straftaten gebüsst haben. Ansonsten würden die vorbestraften Menschen ständig mit der Vergangenheit konfrontiert werden. Diese Vorgehensweise würde ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft erschweren. Zudem möchte das moderne Strafrecht die Straftaten nicht rächen, sondern general- und spezialpräventive Wirkungen schaffen. Die Generalprävention besagt, dass die Höhe der angedrohten Strafe und die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, auf die Gesellschaft abschreckend wirken können.[1] Die Spezialprävention hingegen versucht das Rückfallrisiko des bestimmten Straftäters zu minimieren.[2]

 

Aber nicht alle Straftaten sind verjährbar, denn gewisse strafbare Handlungen sind dermassen gravierend, dass die Resozialisierung des Täters nicht im Vordergrund stehen kann. Gemeint sind Straftaten wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und andere grausame Kriegsverbrechen. Die Unverjährbarkeit solcher Verbrechen wurde mittels einer Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen bekräftigt. Nach Angaben dieser Resolution wird damit die Verhütung und Bekämpfung von derartigen Verbrechen bezweckt.[3] Die Nichtverjährbarkeit einer Straftat bedeutet umgekehrt, dass für das entsprechende Verbrechen über Jahre hinweg ein Interesse an Aufklärung und Aufarbeitung besteht.

Das Vergessen bzw. Verleugnen eines Völkermordes stellt ein selbständiges Verbrechen dar. Es braucht eine bewusste und systematische Aufarbeitung solcher Ereignisse. Ein türkischer Spruch macht den Zweck dieser Art von Erinnerungskultur deutlich: “Bir daha asla diyebilmek için!” Es darf „nie wieder“ geschehen!

Ramazan Özgü

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1 KILIAS, 2002: 442.
2 KILIAS, 2002: 483.
3 Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen, verabschiedet am 26. November 1968, Konvention über die Nichtanwendbarkeit von Verjährungsvorschriften auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Photo by Simon Migaj on Unsplash

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